KUNST²
KUNST ZUM QUADRAT: Anmerkungen zum künstlerischen Schaffen von Gabi Mitterer von Judith P. Fischer
Gabi Mitterers kleinformatige Fotoarbeit „Mai 75“ aus dem Jahr 2016 zeigt ein Paar Kinderzöpfe, zusammengehalten von einer hellblauen Schleife am einen und von zwei Gummiringen am anderen Ende der sich einrollenden Haarbüschel. Die Zöpfe liegen, perspektivisch von oben betrachtet, auf einer neutralen, weißen Fläche. Sofort gewinnt man den Eindruck, dass die Aktion des Haarschneidens im Moment und nicht schon im Jahr 1975 stattgefunden habe, so frisch und lebendig erscheinen das Blond der Zöpfe und das Blau der Masche.
Kennt man nur diese eine Arbeit von Gabi Mitterer, so wäre man wohl geneigt, das Werk der Künstlerin jener feministischen Kunst zuzuordnen, die vor allem auf die eigene Entwicklung fokussiert ist und sich die Frage nach dem eigenen (weiblichen) „Ich“ stellt. (Eine Frage die schon Simone de Beauvoir in ihrem Buch „Das andere Geschlecht“ zu beantworten versuchte.) Ganz in diesem Sinne untersucht Gabi Mitterers kleine, feine Arbeit tatsächlich ein für die Künstlerin im wahrsten Sinn des Wortes einschneidendes Erlebnis, als ihr im zarten Alter von acht Jahren die Zöpfe abgeschnitten wurden und für sie schon bald ein neuer Lebensabschnitt begann, nämlich der als heranreifende Frau. Die Zäsur bzw. die Initiation des neuen Entwicklungsschrittes geschah äußerst bildhaft durch das radikale Kürzen der Haare.
Als Zeichen dafür, wie sehr sich Gabi Mitterer dennoch ihre innere „Pippi Langstrumpf“ bewahrt hat, trägt sie heute wieder Zöpfe und begegnet ähnlich wie die Protagonistin der Kinderliteratur den Phänomenen des Alltags mit derselben Neugier und Offenheit wie denen der Kunst.
So erinnert die 2010 entstandene Fotoarbeit „Den Scherben aufhaben“, an die Herausforderungen einer jungen Mutter, deren Sohn damals gerade einmal zwei Jahre jung war. Die Bewältigung aller an sie gestellten Aufgaben wie die Betreuung eines Kleinkindes samt Haushalt und die damit verbundene Hintansetzung ihrer künstlerischen Arbeit, brachten die Künstlerin zur Erkenntnis, dass sie nun, obwohl von Herzen in der Mutterrolle glücklich, den „Scherben aufhabe“ (für Nicht-Österreicher: „Scherben“ ist der Nachttopf, manchmal auch Blumentopf, den – in welchem Aggregatszustand auch immer – auf dem Kopf zu tragen, nichts anderes bedeutet, als das Nachsehen zu haben) und nun versuchen müsse, alle Identitäten ihres Lebens unter einen Hut zu bringen. Apropos: der Kindertopf entpuppte sich auf dem Kopf der Künstlerin platziert als überaus attraktiver Cowboyhut. Wir sehen also, dass jede Situation und jedes Ding zwei Seiten hat. Die optimistische und lebensfrohe Künstlerin machte aus der persönlich anspruchsvollen Situation ein witzig-ironisches Statement, eine künstlerische Meisterleistung, die letztlich in ihrer bespielhaften und doch einzigartigen Pointiertheit als Titelbild für die Drucksorten zur Ausstellung „Rabenmütter“ im Linzer Lentos (2015 kuratiert von Sabine Fellner, Elisabeth Nowak-Thaller und Stella Rollig) ausgewählt wurde. Die Fähigkeit, aus einem Produkt des Alltags (Kindertöpfchen) oder auch alltäglicher Abfallprodukte etwas Neues, Sehenswertes, Kunstvolles zu entwickeln, zeichnet Gabi Mitterer aus.
Aus verwandter Motivation entstand das Objekt „cc – chromatic circle“ (2014, 2015, 2016), das auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit einem bunten Teppich hat. In dieser Arbeit ging es vorrangig darum, herauszufinden, welche Farben im Haushalt der eigenen Familie dominant sind. So begann sie die Reste aus dem Flusensieb der Waschmaschine zu ordnen und zu einer neuen Einheit (die kein Kleidungsstück werden sollte) zusammenzufügen. Die Frage: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ stellte sich für sie angesichts der Flusen nicht (das Zitat bezieht sich auf die Zeitschrift ART, die in einer Kolumne ihre Leserschaft danach fragte, ob etwas Kunst sei oder wegkönne). Aus dem Abfallprodukt Wäschefaser entstand nach einem Jahr des Wäschewaschens, Siebentleerens, Fusselntrocknens, Auflegens und Fixierens ein Farbkreis frei nach Itten (Johannes Itten 1888-1967), der sowohl als Symbol für die Einheit der eigenen Familie (inklusive Hund) steht als auch raumgreifend im Ausstellungskontext (wie z. B.: power. FRAUEN, NÖART 2017) installiert werden konnte. Ein bunter Lebenskreis ist darin ebenso zu erkennen wie das wollig-weiche und dennoch fixierte Ergebnis häuslicher Feldforschung.
Gabi Mitterer ausschließlich in die Nische der feministischen Kunst einzuordnen, obwohl sie natürlich gerade hier einen wichtigen Platz in der zeitgenössischen Kunstgeschichte einnimmt, wäre aber voreilig und zu kurz gegriffen. Sie ist vor allem Malerin und Grafikerin, eine Meisterin der Linie, Herrscherin über Geometrie und Konstruktion, Computertechnologie und digitale Medien. Eine Erfinderin optischer Täuschungen und räumlicher Irritationen.
Interessant ist daher auch ihr künstlerischer Werdegang: Geboren 1967 in Wolfsbach (Niederösterreich) als Tochter einer Bauernfamilie, studierte Gabi Mitterer Malerei an der Universität für angewandte Kunst in Wien bei Wolfgang Hutter, Wolfgang Herzig und Gerhard Kaiser. Eine weitere künstlerische Facette, nämlich die der medienübergreifenden Bild- und Raumgestaltung, gewann sie bei Brigitte Kowanz dazu. Ihr Forschungsdrang, ihre Vielseitigkeit verbunden mit Lust am Experimentieren finden schon früh ihren Niederschlag in ihrer Ausbildung zur gattungsübergreifenden „Mehr-Sparten-Künstlerin“. Ist es doch ein Phänomen der heutigen Kunstwelt, Kunstschaffende auf eine bestimmte Richtung, einen gewissen Stil festlegen zu wollen, um an Hand benennbarer Formensprache ihre Kunst ein für alle Male ablesbar zu machen. Gegen diese Vereinnahmung durch einen, nach außen hin meist nicht wahrnehmbaren, Marktanspruch hat sich Gabi Mitterer seit jeher gewehrt und ihre Fühler stets nach neuen Kunstsparten und -techniken ausgestreckt. Dies ohne Rücksicht auf Verluste. Dabei ist sie vor allem sich selbst immer treu geblieben und hat stets Themen, die ihr am Herzen liegen, authentisch in unterschiedlichen Techniken und Medien umgesetzt. Und tut es immer noch.
Nach ihrem Diplom (2002) und ihren künstlerischen Anfängen in Wien zog Gabi Mitterer zurück in den elterlichen Vierkanthof nach Wolfsbach. Dort fand sie ausreichend Raum für ein eigenes Atelier und für die noch junge Familie. Die Sinnlichkeit der sie umgebenden Natur führte zu neuen Bild- und Farbwelten, die neben ihrer kritisch-feministischen Forschungsarbeit entstanden. Mit großer Hingabe und Sorgfalt plante sie am Computer akribisch genau Farbverläufe, die sie anschließend ins Medium der Malerei analog mit Pinsel und Farbe übertrug. In einem Katalogtext zur Ausstellung „Verläufe“ bezeichnete Nina Schedlmayer diese sanften Farbveränderungen und Schattenwürfe als „digitale Schatten“. Sie verglich diese mit jenen der „Naturalis Historia“ von Plinius (Nina Schedlmayer, "Verläufe – Gabi Mitterer", Gugler Forum Melk 2005).
An die früheren Farbverläufe knüpfen nun die Farbbilder jüngeren Datums formal an. Als Beispiel sei hier die Werkserie „hones“ (2018/19) angeführt. Wie riesige Findlinge und/oder Flusskiesel sind die rundlichen Ellipsoide entlang der Bildmitte- schwebend und schwer zugleich- angeordnet. Während die Arbeiten der Serien „Shadings“ (2003) und „Waves“ (2004) die ganze Bildfläche einnahmen, zeigen die aktuellen Werke jetzt in sich abgeschlossene und manchmal durch eine zusätzliche Linie begrenzte Formen, die sich deutlich vom Bildgrund abheben, ohne mit diesem zu verschmelzen. Manche werden darin enge Bezüge zur umliegenden Landschaft erkennen, vielleicht einen See, eine Wiese, einen Baum oder eine Wolke. Auf jeden Fall strahlen die aktuellen Bilder jene organische Sinnlichkeit aus, wie wir sie nur im Mikro-Makro-Kosmos der Natur (von der Zelle über Landschaftselemente bis zu Galaxien) wiederfinden. Die schützenwerte Natur mag Ursache und Motiv für diese besondere Harmonie in Gabi Mitterers Werken sein.
Für ihre Malerei an der Schnittstelle zwischen Computertechnologie und Kunst erhielt Gabi Mitterer 2007 den Anerkennungspreis für Kunst und Kultur des Landes Niederösterreich verliehen. Trotz des Einsatzes neuer Medien bleibt der Pinselstrich in ihren Arbeiten immer erkennbar. Neben dem Malerischen ist Gabi Mitterer die Linie in ihren Gemälden, Grafiken und Zeichnungen ein wichtiges Mittel, um Inhalte zu transportieren.
In der ihr eigenen Art und Weise begann Gabi Mitterer 2007 ihr zeichnerisches Umfeld experimentell mit Nadel und Faden zu erweitern. Wo vorher die Bleistiftlinie oder der Tuschestrich zu sehen waren, entstanden nun feine netzartige, weiße Gitter auf schwarzem Grund oder invers schwarze Verspannungen auf weißem Grund. Diese grafisch-textile Technik führte Gabi Mitterer nach und nach zu einer strengeren geometrisch-konstruktiven Kunstrichtung, die sich letztlich auf eine klare Geometrie und konsequente Linienführung konzentriert. Dabei unterstützt das Schwarz-Weiß-Spektrum die künstlerische Wirkung von Gabi Mitterers kühnen Raumvisionen. Wie Gitternetze überziehen die geraden Fadenlinien den Bildträger, gleichgültig, welche Größe oder Form dieser hat, und rufen ebenso Tiefe und Raumordnung hervor wie Variation und Irritation.
Seit 2018 setzen die großformatigen „geotereoiden“ die Idee der „Netzbilder“ fort. Gabi Mitterer malt nun meteoritenartige Gebilde, die den Eindruck erwecken, als würden sie aus dem Bild herauswachsen, -fallen, -brechen. Das Wechselspiel aus präziser Linie und gemusterter Fläche erzeugt dabei eine zusätzliche plastische Wirkung.
Im Bestreben, Bildträger mit Geometrie, Muster, Form und Farbe zu erfüllen, wagt Gabi Mitterer von Zeit zu Zeit den Sprung in den Raum, so auch als Würfel „NOC 1/NOC 2“, die 2019 in der Ausstellung „Impossible Objects“ in der Davidson Gallery in New York/USA gezeigt wurden.
Bei aller sorgfältigen Konstruktions- und Forschungsarbeit gibt die Künstlerin weiterhin ihrem Spieltrieb nach und lässt Witz und Ironie in ihr künstlerisches Schaffen einfließen. Im Atelier der Künstlerin stößt man mitunter auf Werke, die sich so gar nicht in das Bild der konstruierend arbeitenden Malerin einfügen, die aber ihrer Befindlichkeit und ihrem Selbstverständnis als Frau einen ausreichenden Stellenwert geben.
JUDITH P. FISCHER im Atelier von Gabi Mitterer, Wolfsbach 2020